Was heute kaum vorstellbar ist, war vor rund 75 Jahren Realität: Patientinnen und Patienten der damaligen Heilanstalt Bad Schussenried wurden in grauen Bussen abtransportiert und in Grafeneck auf der Schwäbischen Alb in Gaskammern ermordet. Mit einer Gedenkveranstaltung in Bad Schussenried erinnerte das ZfP Südwürttemberg an diese Schreckenstaten.
Am 7. Juni wurden die ersten 74 Patienten aus Bad Schussenried nach Grafeneck gebracht. Bis zum 1. November 1940 folgten acht weitere Fahrten auf die Schwäbische Alb. Hätte die Gemeinde die Chance gehabt, mehr gegen die Vorfälle zu unternehmen? Sollte das Gemeinwohl über dem Leben eines Einzelnen stehen? Mit Fragen wie diesen eröffneten Schülerinnen des Wirtschaftsgymnasiums der Helene-Weber-Schule Bad Saulgau die Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus. Diesem Denkanstoß folgten zwei Vorträge, in denen es um die sogenannte Euthanasieaktion im Allgemeinen, die Schicksaale einzelner Patienten sowie die Frage ging, wie sich die heutige Gesellschaft gegenüber andersartigen verhält.
Seit 1996 ist der 27. Januar der „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ und damit ein nationaler Gedenktag. Erinnert wird an die mehr als 70.000 psychisch kranken und behin¬derten Menschen, die während der nationalsozialistischen Herr¬schaft ermordet wurden. Am Standort Bad Schussenried fand die Gedenkfeier erstmals in dieser Form statt. Dr. Bettina Jäpel, Chefärztin der Abteilung Allgemeinpsychiatrie und Kathrin Rothmund, Pflegerische Leiterin der Allgemeinpsychiatrie Ehingen hatten die Veranstaltung ins Leben gerufen und sich mit der Helene-Weber-Schule in Bad Saulgau in Verbindung gesetzt. Mit Unterstützung von Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer Markus Barg-Rothmund setzten sich die Wirtschafsgymnasiasten mit den Hintergründen und Folgen der sogenannten Euthanasieaktion auseinander und diskutierten die Entwicklungen in der heutigen Gesellschaft. Ihre Erkenntnisse präsentierten vier Schülerinnen dann bei der Gedenkveranstaltung im Gustav-Mesmer-Haus des ZfP. Mehr als 100 Gäste lauschten den Ausführungen.
Jana Wild und Selina Butzengeiger referierten unter anderem über das Schicksaal von Martin Bader, ein Schussenrieder Schuhmacher, der an Parkinson erkrankte und in die Heilanstalt eingeliefert wurde. Am 14 Juni wurde er in die Tötungsanstalt nach Grafeneck gebracht und noch am selben Tag in der Gaskammer ermordet. Seine Familie erhielt die Nachricht, er sei an einem Hirnschlag gestorben. Erst später fand Baders Sohn heraus, was mit seinem Vater passiert war. Fabienne Kadow und Katrin Reitter hinterfragten in ihrem Vortrag, ob die im Grundgesetz festgeschriebenen Menschenrechte in der heutigen Zeit auch immer und überall eingehalten werden und befassten sich mit dem – früher wie heute stattfindenden – gesellschaftlichen Gedankenwandel.
Sichtlich beeindruckt von den Schülerbeiträgen zeigten sich nicht nur die Zuhörer, sondern auch die beiden Organisatorinnen. „Die Frage nach den Grundrechten halte ich für angebracht“, erklärte Karin Rothmund. „Auch heute noch werden psychisch kranke Menschen benachteiligt, beispielsweise im Job oder bei der Wohnungssuche.“ Dr. Bettina Jäpel betonte, wie bewegend es sei, Einzelschicksaale vor Augen geführt zu bekommen und sprach sich für eine Fortführung der Veranstaltung aus. „Der heutige Tag kann den Auftakt für eine neue Gedenkkultur am Standort Bad Schussenried bilden – wir sind zuversichtlich, dass wir daran anknüpfen können.“