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Gedenken gegen das Vergessen: die Geschichten jüdischer Patientinnen und Patienten /

Ein schwarz gekleideter Mann steht rechts vor einem grauen Beton-Bus und hält dort eine Rede. Auf dem gepflasterten Platz vor ihm sind in einem Halbkreis links um ihn herum dutzende Menschen versammelt und hören ihm zu.

Dr. Daniel Rapp, Oberbürgermeister der Stadt Ravensburg, bei seiner Ansprache vor der Kranzniederlegung am Denkmal der grauen Busse.

Mit einer gemeinsamen Gedenkfeier gedachten die Stadt Ravensburg und das ZfP Südwürttemberg am Freitag, 27. Januar, der Opfer des Nationalsozialismus. Im Fokus der Veranstaltung stand die Geschichte der jüdischen Patientinnen und Patienten Württembergs unter den Opfern der sogenannten „Euthanasie".

Zu Beginn der Gedenkfeier sagte Prof. Dr. Juan Valdés-Stauber, Regionaldirektor Ravensburg-Bodensee des ZfP Südwürttemberg: „Elias Canetti schrieb einst, Erinnerungen an Verstorbene seien Wiederbelebungsversuche. Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz ist in diesem Sinne der Versuch, diese Menschen und die an ihnen verübten Verbrechen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Gegen das Vergessen helfen Namen, Bilder und Geschichten – denn hinter den Zahlen, Daten und Fakten der Historiker stehen reale Personen und ihre Schicksale.“

Prof. Dr. Thomas Müller, Leiter des Forschungsbereichs Geschichte und Ethik der Medizin des ZfP Südwürttemberg/Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm, leitete anschließend zum Schwerpunkt der diesjährigen Gedenkfeier über: den Schicksalen jüdischer Württembergerinnen und Württemberger, die als zu behandelnde Kranke der damaligen Heil- und Pflegeanstalten im Land ihr Leben verloren oder aufgrund ihres jüdischen Hintergrunds und jenseits ihrer eigenen Haltung in Fragen der religiösen oder kulturellen Zugehörigkeit stigmatisiert und in Konzentrationslagern ermordet wurden. Er sagte: „Geschichte hat immer Gegenwartsbezug oder, wie der Historiker James Baldwin sagte, Geschichte ist Gegenwart. Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit von Antisemitismusbeauftragten und Ereignissen wie dem Brandanschlag auf die Ulmer Synagoge im Jahr 2021 muss konstatiert werden: Gedenken allein reicht nicht. Offenbar bedarf es noch mehr Einsatz gegen das Vergessen und für die Demokratie.“

Die Historikerin Dr. Annette Hinz-Wessels von der Berliner Charité zeichnete im Folgenden den Ablauf der sogenannten „Euthanasie“ anhand der Schicksale einzelner Patientinnen und Patienten nach, welche von Weissenau oder anderen Heil- und Pflegeanstalten aus nach Grafeneck zu deren Vernichtung verbracht wurden. Sie sagte: „Die ‚Aktion T4‘ begann im Herbst 1939 mit der Erfassung aller Patienten von Heil- und Pflegeanstalten mittels Meldebögen. Auch ausländische, jüdische und ‚kriminelle‘ Personen mussten ausnahmslos erfasst werden. Jüdische Patientinnen und Patienten wurden unabhängig von ihrer Krankheitsprognose und Arbeitsfähigkeit bevorzugt in den Tod geschickt – es war eine planmäßige Ermordung qua Abstammung.“

Darüber hinaus machte Hinz-Wessels anschaulich, wie die wahren Todesumstände mithilfe etwa von ‚Trostbriefen‘ und gefälschter Todesurkunden verschleiert wurden und dass durch die ‚Aktion T4‘ sogar noch Einnahmen generiert werden konnten. Ihr Fazit lautete: „Es besteht eine grundsätzliche Verbindung zwischen der sogenannten ‚Euthanasie‘ und dem Holocaust. Die ‚Aktion T4‘ als eine planmäßig durchgeführte Tötung behinderter Menschen kann als Modell für die ‚Endlösung der Judenfrage‘ angesehen werden.“ 

Nach der Gedenkfeier in der Mehrzweckhalle ertönte für jedes der 691 Opfer ein Glockenschlag vom Turm der Klosterkirche Weissenau. Anschließend fand am Denkmal der grauen Busse eine Kranzniederlegung statt. Dr. Daniel Rapp, Oberbürgermeister der Stadt Ravensburg, sagte: „Es fällt uns heute leicht, zu sagen, ‚die Nazis‘ haben diese Verbrechen begangen oder ‚die Deutschen, damals‘, schwieriger tun wir uns schon damit, zu sagen, ‚wir Deutschen‘ waren das, oder gar ‚wir‘. Die Tatsache, dass dieser Tage wieder ein Krieg in Europa stattfindet, sollte uns daran ermahnen, die Verbrechen von damals niemals in Vergessenheit geraten zu lassen.“

Musikalisch umrahmt wurde die Gedenkfeier von den einfühlsamen Klängen des Trios Deffner, Merk und Piesch mit Stücken jüdischer Komponisten aus verschiedenen Zeiten.

Im Vorfeld zu den Gedenkfeierlichkeiten hatte das ZfP Südwürttemberg dieses Jahr wieder zu Schülerveranstaltungen in den Hörsaal am Standort Weissenau eingeladen. Verteilt auf drei Tage waren der Einladung vier Schulen mit Schüler:innen der Stufen 9 und 10 sowie eine Gruppe Unterstützte Beschäftigung der Arkade gefolgt.

Der italienische Bühnenautor Pietro Floridia hat die Ermordung der psychisch Kranken und geistig Behinderten zum Thema seines Dramas „T4. Ophelias Garten“ gemacht. Das Theaterstück feierte am Abend des diesjährigen Gedenktags im Berliner „Theater unterm Dach“ Premiere. Die weiteren Termine für die Aufführung sind zu finden unter: https://theateruntermdach-berlin.de/ 

Der Videomitschnitt einer Bühnenfassung von „T4. Ophelias Garten“, welche das ZfP Südwürttemberg eigens für den Gedenktag 2021 und für die Verwendung im Schulunterricht aufzeichnen ließ, ist zu finden unter: https://www.zfp-web.de/ueber-uns/unsere-verantwortung/erinnern-und-gedenken 

Noch bis 28. Februar kann am ZfP-Standort Weissenau die Ausstellung „Schloss Dellmensingen 1942 - Ein jüdisches Zwangsaltenheim in Württemberg, mit regionalen Bezügen zu Zwiefalten und Tigerfeld“ besucht werden. Es handelt sich dabei um eine Ausstellung des Museums zur Geschichte von Christen und Juden in Laupheim in Kooperation und mit Erweiterungen durch das Württembergische Psychiatriemuseum in Zwiefalten. Sie ist im Zentralgebäude (Haus 42) des Standorts täglich von 9 bis 17 Uhr frei zugänglich.
 




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